Musikpädagogisches Rahmenkonzept
Das Projekt
Seit 25 Jahren arbeiten die Fachleute des Bundesjugendhilfe Musikprojekts mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen aus Jugendhilfeeinrichtungen, Kinder- und Jugendheimen und Schulen. Die
Kinder und Jugendlichen werden fachkundig angeleitet, aktiv Musik zu machen und sich ressourcenorientiert in ihren Einrichtungen mit ihren Interessen zu beschäftigen und an ihren Stärken zu
arbeiten.
Damit diese Arbeit nachhaltig wirken kann, werden auch die Betreuerinnen und Betreuer, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, Lehrerinnen und Lehrer aus den
Jugendhilfe-Einrichtungen als Multiplikatoren in das musikpädagogische Konzept eingeführt und angeleitet. Die Musikpädagogen des BJH Musikprojektes schulen verschiedene
Möglichkeiten der musikpädagogischen Arbeit, die im Alltag ein- und umsetzbar sind.
Als wichtigster Baustein des Musikprojektes haben sich die jährlichen deutschlandweit ausgeschriebenen Musikworkshops entwickelt: An 4 Tagen arbeiten die Referenten - Fachleute
aus der Jugendhilfe, die zusätzlich zur sozialpädagogischen Fachkompetenz musikalische und musikpädagogische Kompetenzen besitzen, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen aus
Jugendhilfeeinrichtungen und deren Betreuern, um ein aufführungsreifes Repertoire zu erstellen. Einen gemeinsamen Abschluss findet jeder Workshop in einem großen
Abschlusskonzert, bei dem das erarbeitete Programm vor Publikum präsentiert wird. Die Musikpädagogen leiten verschiedene Formationen: Pop - und Rockbands, Gospelchor,
Bigband, Percussion (Djemben, Bodypercussion und Stomp) und Beatboxen. Künstler wie „Mando“ (Deutscher Meister im Beatboxen), „Major“ und Wolfgang Niedecken (beide BAP), Steffi Stefan (Udo
Lindenberg und Peter Maffay), Busters mit Markus Sprengler und viele andere haben die Workshops bereits mit ihrem professionellen Know How unterstützt und ihre Prominenz in den Dienst der
benachteiligten Kinder und Jugendlichen gestellt.
Das musikpädagogische Konzept
Die Idee von traditionellem Musikunterricht, der beispielsweise klassische Musik, Themen wie Harmonielehre und Erlernen von Notenkenntnissen zum Gegenstand hätte, oder auch das eher spontane
gemeinsame Singen von Liedern, bietet zunächst kaum Aussicht auf Erfolg mit den Kindern und Jugendlichen aus den Einrichtungen der Erziehungshilfe. Dass dennoch seit einigen Jahren im Rahmen des
Musikprojektes sehr erfolgreich Musik gemacht und vermittelt wird, liegt an dem zielgruppenorientierten Zugang zur Musik und beruht auf der Erkenntnis, dass Musik für diese
besondere Zielgruppe andere Zugänge benötigt und erlebbar gemacht werden muss.
Populärmusik hat einen hohen Identifikationswert für die Kinder und Jugendlichen in der Jugendhilfe. Die Alltagsrelevanz bietet für eine Adaption des Themas in der Einrichtung
beste Chancen. Mit den Kindern und Jugendlichen wird populäre Musik gespielt, das heißt es werden deren Ideen, musikalische Vorlieben und Interessen werden aufgenommen und gemeinsam in die Tat
umgesetzt. Im Vordergrund steht der Leitgedanke des gemeinsamen Musik-Erlebens: kurzfristiger Erfolg ist vorrangig gegenüber filigranem Spiel oder musiktheoretischem Lernerfolg.
Dies ist der fachspezifische Zugang zur Harmonielehre für eine besondere Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die durch ihre biografische Vorerfahrung wenige Erfolgserlebnisse im Rahmen von
Bildung und sozialer Anerkennung erfahren haben.
Das musikpädagogische Handeln der Fachkräfte ist pädagogisch intendiert, therapeutische oder heilpädagogische „Nebenwirkungen“ im Sinne von Persönlichkeitsentwicklungen entstehen immer wieder
durch die Arbeit in den Musikworkshops. Die Vorgehensweise ist bestimmt durch das Prinzip der didaktischen Reduktion: Vereinfachte Arrangements und leicht verständliche,
anschauliche Lernhilfen (Akkord-Bilder für Gitarre oder Keyboard/Schlagzeug-Patterns/ Greifschemata für den Bass) ermöglichen auch Kindern mit Lernschwächen schnelle Erfolgserlebnisse. Die
besondere Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen in der Jugendhilfe haben das Potential, nach einer Zeit gemeinsamer und persönlicher Erfahrungen, sich als Ensemble in einer Band oder
Perkussionsgruppe bei Veranstaltungen zu präsentieren. Die jugendlichen Teilnehmer der Musikworkshops sind in jeder Planungsphase involviert und haben somit einen persönlichen Anteil an jedem
Baustein des gemeinsamen Schaffens. Die Musikpädagogen versuchen die Abläufe und Situationen so zu gestalten, dass ein Transfer in den Alltag von Jugendhilfeeinrichtungen möglich ist.
Ein wichtiger Erfolgsfaktor sind die Persönlichkeiten der Musikpädagogen und ihre Haltung in Bezug auf den pädagogischen Umgang mit den in den Musikprojekten teilnehmenden
Kindern und Jugendlichen. Die musikpädagogischen Fachkräfte besitzen aufgrund ihrer musikalischen Kompetenzen in den Augen der Kinder und Jugendlichen eine Autorität, die geprägt ist von
gegenseitigem Respekt. Die Musikfachkräfte gehen auf der Sachebene als gleichberechtigte Musikschaffende auf die Kinder und Jugendlichen zu, bestätigen deren vorhandene Kompetenzen und loben den
Zuwachs an Fähigkeiten und Fertigkeiten im Verlauf der Workshops. Auf dieser Grundlage erfahren die Kinder und Jugendlichen eine unmittelbare Annahme und Wertschätzung und fühlen sich akzeptiert.
Aus dem anfänglichen Chaos der Individuen wird sehr schnell eine gemeinsame Ausrichtung. Die gemeinsame Zielsetzung im Workshop macht es notwendig, dass die Beteiligten – Erwachsenen wie
Jugendlichen – aufeinander hören und aufeinander eingehen, miteinander sozial agieren und zusammen „funktionieren“. Wenn das nicht gelingt, ist der Missklang direkt hörbar, wenn es gelingt, ist
der „gute Ton“ und die „Harmonie“ ebenfalls hörbar und spürbar. Die Beziehungen, die sich in kurzer Zeit entwickeln, sind geprägt von Offenheit und der Bereitschaft der Annahme von Feedback. Es
ist oft erstaunlich, wie schnell die Kinder und Jugendlichen sich auf diese durch die Musik geprägte soziale Interaktion einlassen und sich in als Teil einer Gruppe betrachten und
verhalten.
Die pädagogischen Ziele für die Musikworkshops sind insbesondere die Vermittlung von:
Basiskompetenzen
Sie beinhalten Fähigkeiten wie Kommunikationsfähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen, Umgang mit Gefühlen, kritisches Denken, Entscheidungsfindung, Handlungskompetenz, Selbstwahrnehmung,
Selbstbehauptung, Widerstand gegenüber Gruppendruck, Umgang mit Stress und Angst sowie Frustrationstoleranz.
Selbstkompetenz
beinhaltet das Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, die Fremd- und Selbstwahrnehmung sowie das Durchsetzungsvermögen eines Teilnehmers. So können die TeilnehmerInnen ein positives Bild von sich
selbst entwickeln und betrachten sich als lern- und leistungsfähig. Wir schaffen zudem für die Kinder und Jugendlichen Freiräume und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Dadurch lernen sie, ihre eigene
Meinung
zu bilden, Aufgaben zu übernehmen und Probleme selbstständig zu meistern.
Kognitiver Kompetenz
Durch die Musik wird die Lust am Lernen, am Wahrnehmen und Verstehen gefördert. Den TeilnehmerInnen wird die Möglichkeit gegeben, alle ihre Sinne zu nutzen, um zahlreiche Eindrücke zu sammeln.
Dies geschieht durch vielfältige Angebote, wie z. B. Trommelspiele (Bodypercussion, Becherspiel, etc.), gemeinsame Proben, Einzelproben, Instrumentenkunde, Materialkunde, Gespräche oder
Exkursionen. Differenzierte Wahrnehmung befähigt dazu, Beobachtungen und Erfahrungen zu ordnen und zu
unterscheiden. Dabei können sich die TeilnehmerInnen altersgemäße Kenntnisse aneignen, das logische Denken wird gefördert und das Gedächtnis trainiert. Durch Freiräume (Improvisation, Jam
Sessions) im musikalischen, sprachlichen und künstlerischen Bereich werden die Kinder und Jugendlichen angeregt zu kreativem Tun. Lernen wird interessant, wenn Sinnzusammenhänge erfahrbar
werden!
Körperlicher Kompetenz
Schon durch das Hören von Musik wird das Bedürfnis nach Bewegung geweckt. Bereits im
Säuglingsalter bewegen Kinder ihre Arme rhythmisch zur Musik. Kleinkinder hüpfen und drehen sich dabei. Im Kindergartenalter wächst das Bedürfnis zu tanzen, zu singen und selbst musikalisch aktiv
zu werden. Bei den Musikworkshops spielen die Kinder und Jugendlichen mit verschiedenen Klangerzeugern und entdecken immer wieder neue Instrumente. So erfahren sie selbst den Zusammenhang von
Aktion und Klang. Musik steht in direktem Zusammenhang zur Bewegung. Die musikalische Entwicklung und die motorische Entwicklung stehen dabei im wechselseitigen Verhältnis zueinander und
schreiten gemeinsam voran.
Sozialkompetenz
Dazu gehören die Kontaktfähigkeit, Konfliktbewältigung sowie die eigenen Interessen, Bedürfnisse und Wünsche äußern zu können. Die TeilnehmerInnen haben in den Musikprojekten die Gelegenheit,
Beziehungen aufzubauen. Musizieren innerhalb einer Gruppe fördert die sozialen Kontakte. Die TeilnehmerInnen lernen, sich in einer kleinen Gruppe zurechtzufinden, sich zu behaupten und die
anderen Kinder und Jugendlichen zu respektieren. So erfahren die TeilnehmerInnen beides: den individuellen Erfolg und die Freude am gemeinsamen Arbeiten. Sie lernen, dass gemeinschaftliche
Regeln, die eingehalten werden, nicht einengen, sondern Freiheiten und neue Möglichkeiten
schaffen.
Normen und Werte
Bei den Workshops treffen sich Kinder und Erwachsene aus verschiedensten Kulturkreisen.
Jedes Kind kann sich in den Workshops als einzigartiges Individuum, dass zum Gelingen des großen Ganzen beiträgt, erleben - unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit.
Kreativitäts- Ausdrucks- und Kommunikationskompetenz
Es ist Teil der Musikworkshops, den TeilnehmerInnen die Möglichkeit zu geben, ihr Umfeld aktiv wahrzunehmen und vor allem zu begreifen. Kinder erfahren ihre Welt durch Eigenaktivität, ihr Wissen
basiert zum größten Teil auf selber gemachten Erfahrungen bei einer unmittelbaren Begegnung mit Gegenständen, Objekten, Menschen und Situationen. Wenn das Kind selber forschen, experimentieren
und entdecken kann, dann bietet dies die besten Erfolge beim Lernen. Im Musikworkshop entdecken die TeilnehmerInnen die Freude am kreativen Tun, indem Ihnen die Chance gegeben wird, verschiedene
Instrumente und Methoden zu verwenden und damit zu experimentieren („Learning by doing“, John Dewey).
Die oben beschriebenen Fähigkeiten können allesamt in einem ressourcenorientierten Übungsrahmen, innerhalb des Proberaumes, bzw. im Laufe eines Workshops trainiert und stabilisiert werden.
Die pädagogische Arbeit ist ressourcenorientiert: sie baut auf den Interessen der Beteiligten auf und vermittelt Kompetenzen spielerisch. Als Vermittlungsmedium spielen Freude an
der Musik und Gemeinsamkeit mit Peers eine wichtige Rolle. Die in den schulischen Bildungsprozessen von den betroffenen Kindern und Jugendlichen eher negativ erlebten Aspekte Wettbewerb, Noten
und Bewertungen werden weitgehend ausgespart. Dadurch wird der bei den Kindern und Jugendlichen meist negativ besetzte Leistungsdruck und der damit verbundene Schul- und Lern-Stress vermieden.
Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer ist in die Planungsphase aller gemeinsamen Aktivitäten involviert und bringt sich hier im Rahmen seiner/ihrer Fähigkeiten ein. Jede und jeder
trägt ihren und seinen Teil zum Gelingen bei.
Ein wichtiger Teil zum Gelingen der musikpädagogischen Arbeit sind Instrumente und technische Ausstattung. Das Musikprojekt ist auf die privaten Instrumente und Materialien der jeweiligen
Referentinnen und Referenten angewiesen. Oft stellen die Einrichtungen und/oder Sponsoren einen großen Teil des technischen Equipments zur Verfügung.
Der BVkE begleitet das Projekt als Teil seiner ressourcenorientierten Fachprojektarbeit mit großer Beteiligung von Einrichtungen und Diensten der Erziehungshilfe, die ihre Fachkompetenz über die
Teilnahme von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einbringen. Ein jährlichen Budget von 5.000 € steht dem Projekt zur zur Sicherung der fachlichen Arbeit zur Verfügung. Die Projektsteuerungsgruppe
unter der Leitung eines BVkE Vorstandsmitglieds tagt zwei bis drei mal pro Jahr.
Dr. Klaus Esser
Januar 2015